Nachdenken mit Christian
von Christian Wenger
Kürzlich nebenan in der Bäckerei. Ich trinke den Morgenkaffee an einem Samstag. Der Bäckermeister ist gerade lustig drauf und lässt mich nicht in Ruhe, eingehüllt in Kaffeeduft und meinen Gedanken. «Mein Nachbar ist das», sagt er zu jemandem und tippt mir auf die Schulter. Der Angesprochene Mitte fünfzig, oberflächlich humorvoll, entgegnet: «Das ist ja der mit den Hi-Fi-Anlagen, die man sich nicht leisten kann». Lachen. Ich lache auch. Wen meint er mit «man»? Dann folgt eine Bemerkung über die Plattenspieler im Schaufenster und dass er keinen Plattenspieler hätte aber viele Platten. So das Übliche. Im Westen nichts Neues.
Ich bemerke dann, dass Schallplatten wieder sehr populär seien. Warum tat ich das? Natürlich wusste er es bereits. «Ich habe überall Sonos zu Hause und ich weiss gar nicht was ich so für Musik höre». Das sei ebenso mit Sonos. «Ich höre nie Musik zu Hause, ich liebe die Ruhe», sagt der Bäckermeister und macht es unabsichtlich noch schlimmer. Heute geht er mir auf den Wecker. Ich kaue auf einem trockenen Sesam-Gipfel herum, vermutlich vor dem gestrigen Feiertag hergestellt, dann noch gekühlt und heute frisch aufgebacken. Dazu schüttet er noch Öl ins Feuer. Er liebt die Ruhe und der andere weiss nicht was er für Musik hört und mir bleibt der Gipfel im Hals stecken.
Ich erfahre dann noch, dass die Musik einfach irgendwo herkommt. Vermutlich von Spotify, zufällig. Nichts gegen Sonos oder Spotify, das sind nur die Werkzeuge, aber warum wollen Leute Musik, wenn sie sich nicht dafür zu interessieren scheinen? Das erscheint mir schlimmer als der trockene Gipfel und mein Freund der Bäckermeister hört sich wenigstens gar nichts an.
Die allgegenwärtige Berieselung mit beliebiger Musik ist nicht nur eine Zeiterscheinung. Es ist einerseits das Machwerk einer Industrie, die sich vom Kern der Sache abgewandt hat. Es geht nicht mehr um Musikverständnis und erlebte Qualität. Es geht um die Tassen-Suppe aus dem Beutel und um eine Marke, die dann von allen gekauft wird. Andererseits sind es die Käufer: Sie sind modern, informiert und desinteressiert. Sie wissen Bescheid und interessieren sich nicht, worüber sie Bescheid wissen. Ihre Aussagen ergeben keinen Sinn. Die Erklärungen sind ohne Zusammenhang und logische Abfolge. Niemand stellt eine Frage, alle quatschen etwas, als sei das Mundwerk eine lebenserhaltende Funktion und direkt mit dem Stammhirn gekoppelt, wie die Atmung.
In der guten alten Zeit musste man sich zu einem guten Teil für die Musik interessieren, die man hörte, denn man musste eine Auswahl treffen. - Mit Ausnahme von Radio, wo es auch um Unterhaltung und Information ging und geht. Auch im guten Teil der Gegenwart muss man eine Auswahl treffen: Wer zum Beispiel Roon als Geräte-übergreifende Mediathek und User-Interface nutzt, kann nicht einfach auf Zufallswiedergabe drücken. Man muss ein Album, einen Interpreten oder ein Genre wählen. Man muss, wie einst, seine Stimmung befragen. Dafür braucht es noch nicht einmal Schallplatte, auch wenn es damit am besten geht.
Zum guten Glück erlebe ich auch Positives. Neugierige Menschen mit Interesse. Sie stellen Fragen, wollen sich informieren. Sie sind interessiert. Eine Frage des Intellekts vielleicht?