Nachdenken mit Christian
von Christian Wenger
Alleine in den USA wurden 2018 knapp 10 Millionen Schallplatten verkauft, 12% mehr als noch in 2017. Die weltweiten Zahlen sind nicht zu erfahren, dafür gibt es nicht genügend verlässliche Quellen. Doch dürfte Europa mit den USA etwa gleich aufliegen. Einwohnerzahl, Kaufkraft, kulturelle Präferenzen und die Geschichte des Tonträgers sind sehr ähnlich. Der Vinylboom hält an. Die meist verkauften Alben fallen auf Pop-Klassiker: Michael Jakson, Fleetwood Mac oder Prince.
Für uns Graurücken, Vinyl-Liebhaber alter Schule, ist das eine sehr erfreuliche Nachricht. Oder doch nicht? Wir haben es ja schon immer gewusst (bloss hörte man uns nicht) und nun stehen wir da und sehen Horden pickelgesichtiger Vinyl-Fans mit leuchtenden Augen auf uns zustürmen wie einst die Hunnen. Dabei haben die Typen ja keine Ahnung von Plattenspielern. Meinen die wirklich, man könne sich einfach einen beliebigen Dreher für 300 Stutz posten und dann ist man dabei? So ein buntes Brett und dann noch mit Bluetooth? Und was die alles erzählen von wegen, dass es so schön natürlich und warm klingen würde. Nein, so einfach ist das nicht, wie die denken.
Das ist viel komplizierter und man muss eine Menge Erfahrung sammeln bis man durchblickt. Der Antrieb zum Beispiel oder die Masse des Tonarms im Vergleich zur Nachgiebigkeit des Nadelträgers. Dann die ungeheuer anspruchsvolle Anpassung der Vorstufe. – Impedanz, Kapazität und das Mysterium der Entzerrung. Das braucht schon was. Wir haben schliesslich nicht zwei Jahrzehnte an unseren Plattenschwirbeln herumgebastelt, damit Vinyl jetzt plötzlich zum Massenmedium trivialisiert wird. Wir lassen diesen Kulturbolschewismus nicht zu! Nicht mit uns!
Überhaupt würde es ohne uns gar nicht so unglaublich gut klingen. Wir, die Bewahrer der analogen Kultur. Wir, die wir keinen Stein auf dem anderen liessen. Wir, die wir jedem Hersteller und seinen Innovationen misstrauten und stets darauf verwiesen, dass früher, in den 1960/1970ern alles besser war, mit ein wenig Nachhilfe natürlich. Das war schon ein toller Antrieb mit Reibrad beim alten Lenco, aber nicht mit der Zarge. Wo denken sie bloss hin? Das ist doch erst der Anfang des beschwerlichen Wegs, den wir alle hinter uns haben. Man kann doch nicht einfach einen Plattenspieler kaufen und glauben, man wäre dann am Ziel. «Haben Sie sich schon einmal mit der Innenverkabelung Ihres Tonarms befasst? – Noch nicht? Okay, bei dem Tonarm brauchen Sie das auch nicht».
Ich glaube, die «Vinyl-Hunnen», die da auf uns zustürmen, werden uns gar nicht bemerken.